Jubilophobie
Leiden Sie langsam auch an Jubilophobie? Schon das ganze Jahr 2007 wurden 40 Jahre Studentenrebellion abgefeiert, dieses Jahr sind es 40 Jahre 68-er, nächstes Jahr haben wir zu erwarten: 40 Jahre Ende der Revolte, 40 Jahre Mondlandung, 40 Jahre Woodstock, 40 Jahre Heirat zwischen John Lennon und Yoko Ono und „Spiel mir das Lied vom Tod“– da sieht man doch, wie das alles endet. Des weiteren arbeitet unsere Zunft schon jetzt eifrig an den folgenden, 2009 erscheinenden Artikeln: 100 Jahre künstlicher Kautschuk, 100 Jahre Postschecks, 100 Jahre Willy Millowitsch, 200 Jahre Scheidung zwischen Napoleon I. und Joséphine, 250 Jahre Erfindung des Rollschuhs, 250 Jahre Fluidums-Hypothese. Sie wissen nicht, was das ist? Sie haben es gefälligst zu wissen! Und weil das alles immer noch nicht reicht, erinnern Medien wie geschätzte Magazin „Spiegel-Online“ zwischendurch an Themen wie „10 Jahre USB-Stick“. Vorschlag an meine Journalistenkollegen: Speichert all eure jubilatorischen Ergüsse auf besagtem USB-Memorystick und schießt ihn in Erinnerung an 40 Jahre Mondlandung auf den Erdtrabanten.
Blog
Der Wahnwitz der Welt (10)
Tierisches Treiben
Der Mai ist gekommen, die Tiere schlagen aus. In der Nähe der Antarktis vergriff sich jüngst ein Seebär bei der Partnerwahl. Die runde hundert Kilo schwere Robbe bedrängte einen gerade mal fünfzehn Kilo leichten Königspinguin. Der Vogel empfand das Liebeswerben bei 85 Kilo Gewichtsunterschied nicht so lustig. Am Ende gab der Gewichtigere doch nach und ging schwimmen. Die Biologen, die das Treiben beobachteten, staunten. Von schwulen Pinguinen und Seeadlern hatten sie schon gehört, auch von lesbischen Delfinen, aber dass ein Säugetier einen Vogel zu vögeln versucht, war ihnen so neu, dass sie aufgeregt einen wissenschaftlichen Aufsatz verfassten. Aber vielleicht hätten sie sich vorher in Münster umhören sollen. Daselbst verliebte sich auf dem Aasee vor zwei Jahren die schwarze Schwandame Petra in ein großes weißes Tretboot und wich ihm nicht mehr von der Seite. Doch ach, wir leben in treulosen Zeiten: Vor etwa zwei Monaten fand Petra einen neuen weißen Partner, einen Höckerschwan. Sie bauten gar schon fleißig an einem Nestlein, da verließ er sie. Und Petra, nunmehr in Trauerschwärze gekleidet, wurde von mitleidigen Müsteraner zurück zu ihrem Tretboot gebracht.
Der Wahnwitz der Welt (9)
Tor(en) der Freiheit
Es gibt Momente, da erlebt man Berlin als Fleisch und Stein gewordene Utopie. Solch ein Moment spielte sich in den Pfingsttagen vor dem Brandenburger Tor ab, das schon so viele Szenen deutsch-militaristischen Größenwahns erlebt hat. Offenbar hatten sich dort alle Verrückten dieser Welt verabredet – zum denkbar friedlichsten Stelldichein. Rechts vom Tor, begleitet von Trommelschlägen, bogen goldfarben gekleidete Mädels von Falun Gong ihre Knochen zum Lotussitz und demonstrierten gegen den chinesischen Kommunismus – oder was von ihm übrig blieb. Links dankte die FDJ – oder was von ihr übrig blieb – für die Befreiung am 8. Mai 1945 lautstark den Sowjets – oder was von ihnen übrig blieb. In der Mitte der Szene demonstrierte ein Sensenmann in einer Gruppe von Hertha-Fans – für was eigentlich, für den Abstieg von Hertha? Dahinter bauten sich für ein Gruppenfoto grünuniformierte Volksarmisten auf – oder was von ihnen übrig blieb. Und dann – „Indianer!“, schrie mein Begleiter. Fünf Stück, in voller Kriegsbemalung. Sie legten ihre Pfeile an – ich fiel sterbend vom Rad. Vor Lachen.
Der Wahnwitz der Welt (8)
Keller, Kühltruhen, Katakomben
Leichen im Keller – was für eine Untertreibung in diesen Tagen. Allenthalben öffnen sich Keller, Kühltruhen und Katakomben, aus denen nacktes Grauen steigt. In Amstetten lebte ein Opa seine perverse zweite Identität im Dunkel seines Vergewaltigungskeller aus; in Wenden im Sauerland suchte ein 18-jähriger nach Pizza und fand drei Babyleichen in der elterlichen Tiefkühltruhe; im kalifornischen Sacramento bewahrte ein Mann rund 300 Katzen in den Gefriertruhen seines Wohnhauses auf, womöglich für den Kochtopf. Und würde das alles nicht schon den Tatbestand von mindestens einem, wenn nicht drei Untergängen des Abendlandes erfüllen, hat sich nun auch durch Aktivitäten irgendwelcher Grabschnüffler und Gruftbuddler herausgestellt, dass die Ruhestätte unseres Nationaldichters keineswegs das enthielt, was der Grabstein versprach, nämlich einen Schiller. Und schon gar nicht einen vollständigen. Sondern zwei Schädel undefinierbarer Herkunft mitsamt undefinierbaren Knöchelchen. Vielleicht waren gar Katzenellbogen oder Rattenbeinchen dabei? Es ist nur noch grauenhaft. Aber das Seltsame ist: Der Himmel blaut, die Tulpen leuchten, und beim Italiener schmeckt das Erdbeereis immer noch so gut, dass die Sonne vor Lust dahinschmilzt.